Woanders am Ende der Welt
Da standen sie, Marie und ihr Großvater Erwann, mit den Ellenbogen auf das Geländer der Leuchtturmplattform gestützt, und unter ihnen erstreckte sich die lange, schmale, an ihren Rändern ausgefranste Insel Sein fast wie auf einer Landkarte. Men Brial im Süd-Osten wurde von schnellen Licht- und Schattenstreifen überzogen. Die Küste des Festlands dahinter war gut zu erkennen, lag aber noch immer im Dunst. Im Süd-Westen, direkt unter ihnen, sah die Chapelle Saint-Corentin wie ein Modell aus. Winzige Menschlein bewegten sich zwischen den Hinkelsteinchen im ummauerten Kirchhof. Mäuerchen aus Feldstein umfriedeten nicht nur den Hof der Kapelle. Sie überzogen die Heidelandschaft überall da, wo der Boden erdig genug gewesen war, um winzige Felder anzulegen. Von oben betrachtet, bildeten die Mauern ein Muster aus unregelmäßigen Kästchen. Zur Seeseite hin ragten dunkle Granitinselchen aus dem tiefblauen Wasser, sie lagen da wie ausgeschüttete Erbsen auf einer glatten Tischplatte. Wenn man Glück hatte, konnte man Seehunde darauf beobachten, auch Delphine gab es um die Insel zu sehen, doch heute nicht.
Gegen halb eins verließen sie den Leuchtturm. »Lass uns zur Kapelle gehen, Fridu hat Durst«, schlug Erwann vor. Also gingen sie zu der kleinen Kapelle, in deren ummauertem Hof nicht nur vier Hinkelsteine standen, sondern auch drei prähistorische Regenwasserbrunnen, aus denen der Hund nacheinander schlabberte.
»Wo warst du eigentlich, als die Deutschen Crozon besetzten?«, fragte Marie und setzte sich auf den Rand eines der ausgehöhlten Granitblöcke.
»Fängst du schon wieder mit dem alten Kram an?«, fuhr Erwann auf. »Na gut. Ich war in Telgruc. Da habe ich die Deutschen einmarschieren gesehen.«
»Und wie war das?«
»Beeindruckend«, gab Erwann langsam zurück. Er zögerte, dann fuhr er fort: »Sehr beeindruckend war das. Weißt du, diese Deutschen, sie waren viel größer als wir. Gut, ich war noch ein kleiner Junge, aber nicht nur mir kamen sie groß vor, und überaus athletisch. Ihre Uniformen sahen brandneu aus, nicht nur die der Offiziere, auch die der Soldaten. Wir hatten ja so wenig damals, da fiel uns das auf. Was mich am meisten frappierte, war aber die Disziplin. Diese Soldaten, sie marschierten wie Maschinen, so perfekt war ihr Gleichschritt. Dabei schauten sie nicht hierhin und dorthin, sondern stur geradeaus. Nun, aus den Augenwinkeln werden sie schon um sich gesehen haben. Jedenfalls hatten sie so ein kleines Lächeln im Gesicht, das Lächeln der Sieger …«
Marie sah das Gesicht von Elodies Offizier vor sich. Das herrische kleine Lächeln, den kühlen Glanz der hellen Augen, die Elodie zeichnerisch verewigt hatte.
Ihr papy fuhr fort: »Mir haben diese Soldaten Angst gemacht. Außerdem machten sie mich wütend, diese Eindringlinge, die uns mit ihrer Kriegsmaschinerie viel zu leicht überrollt hatten. Und dann war da noch etwas. Es gab Mädchen, die wie ich an der Straße standen und dem Einmarsch zusahen. Ja, und man sah, sie waren ebenso beeindruckt wie ich von diesen großen Soldaten. Nur, ihnen gefiel dieser Ausdruck der Macht und des Sieges in ihren Gesichtern. Manche lächelten die Deutschen an oder winkten. – Das hat einen merkwürdigen Eindruck in mir hinterlassen.«
Marie schluckte. Der Moment war gekommen. »Und deine Schwester …?«
»Meine Schwester, ah … Nein, sie lächelte nicht damals. Gehen wir zurück?«
Marie wäre beinah geplatzt vor Ungeduld, aber sie beherrschte sich – vorläufig. Doch als sie auf den Friedhof der Cholera-Toten zugingen, mit seinen vom Wetter ausgewaschenen Grabplatten ohne Namen und Daten, schoss es ihr durch den Kopf: Nein. Nein, das geht nicht. Auch wenn er nicht reden will, ich muss es! Und sie begann: »Erinnerst du dich an den Schrank in dem Zimmer, in dem du als Kind geschlafen hast? Darin habe ich eine alte Truhe gefunden, voller Zeichnungen von Elodie. Auf die Truhe hatte sie eine große Heiligenfigur gestellt, wie eine Wache; eine weibliche Heilige mit einem Turm in den Händen. Sagt dir das etwas?«
»Eine Heiligenfigur?«, fragte Erwann perplex. »So etwas haben wir zuhause niemals gehabt. Und Zeichnungen? Ja, sie hat immer gezeichnet. Was ist darauf, hast du sie dir angesehen?«
»Oh ja, und eine Mappe wollte ich mitbringen, mit den ältesten Zeichnungen, aus der Bretagne. Es ist ein sehr schönes Bild dabei, ein Portrait von dir als Zwölfjährigem.«
»Ach was«, sagte Erwann betroffen. Es war so lange her, aber er meinte zu wissen, welche Zeichnung es sein musste. Ostern, es war Ostern gewesen. Elodie hatte ihn dazu überredet, das Stillsitzen war nicht leicht gewesen, aber für Elodie … Sie hatte sein Bild also aufgehoben …
Marie holte Luft. »Papy, ich weiß, du willst nicht darüber reden, aber ich möchte wirklich wissen, was mit Elodie, mit dir und eurer Familie im Krieg war, und ob deshalb danach alles so verlief, wie es verlaufen ist, du weißt schon, Elodie in Paris, du hier und so weiter.«
Erwann machte eine hilflose Geste. »Findest du nicht, man sollte die Toten und ihre Geschichten ruhen lassen?«, fragte er unglücklich.
»Welche Toten, meinst du Elodie? Aber verflixt nochmal, was hat sie denn getan? Diese ganze Geheimniskrämerei, die macht alles nur schlimmer! Als wäre Elodie eine Schwerverbrecherin gewesen!«
»Eine Schwerverbrecherin? Nein! Das darfst du nicht denken! Meine Schwester hat freilich Dinge getan, die – sie hat es gut gemeint, aber es waren schlimme Dinge. Zumindest meinten das die Leute. Und niemand hat ihr jemals verziehen. Deshalb verließ sie nach dem Krieg die Bretagne und fing in Paris ein neues Leben an. Wahrscheinlich war es wirklich so besser.«
»Was soll das heißen? Jetzt sag schon! Und was irgendwelche Leute über meine Großtante dachten, ist mir egal. Ich möchte mir mein eigenes Urteil bilden!«
Erwann blieb stehen. »Na schön«, sagte er unsicher. »Ich selbst weiß nicht, ob es richtig oder falsch war. Ich weiß nur, dass es für uns, meine Mutter und mich, nicht einfach war, mit dem Gerede der Leute klarzukommen. Und mit ihrem Misstrauen. Ich erzählte dir doch von diesen Mädchen, die den deutschen Soldaten schöne Augen machten. Elodie hat mehr als das getan. Sie war die Geliebte von deutschen Offizieren.«
Es war ein Schock, es ausgesprochen zu hören. Ein Schock, obwohl es keine komplette Überraschung war.
»Sie war nicht die einzige Frau, die so etwas tat«, fuhr Erwann schnell fort. »Und vor allem, sie tat es nicht, um – um sich von den Siegern aushalten zu lassen. Sie war keine Verräterin. Ich weiß, einen Deutschen hat sie aufrichtig geliebt, zu sehr sogar, zu sehr. Aber ihre leidenschaftlichste Hingabe gehörte der Résistance. Sie hat ihre deutschen Liebhaber für die Résistance ausspioniert. Das ist es, was Elodie getan hat.«