Dazwischen - Leben mit zwei Kulturen
Meine bretonische Freundin Sylvie zeigte mir eines Tages ein Video auf Youtube. Der Film handelte von der vom Leben im Mutterleib herrührenden Sehnsucht ganz kleiner Babys nach dem Wasser und von ihrer erstaunlichen Fähigkeit, in tiefere Wasserbecken eingetaucht, nicht zu ertrinken, sondern sich nach dem Auftauchen schwimmend fortzubewegen. Die schwimmenden Babys ähnelten in ihren Bewegungen kleinen Hunden oder Seehunden.
Wohl alle Babys baden gern, und in den meisten Kinder-Fotoalben, oder in neuerer Zeit auch in digitalen Formaten, finden sich diese niedlichen Baby-Badebilder, die die Baby-Badelust bleibend für Familie und Freunde bezeugen. Auch von mir gibt es solche Bilder in meinem rosafarbenen Kinderbilderalbum. Doch seltsam, der frühesten Existenz auf Erden entwachsen, sollte ich eine Angst vor dem Untertauchen entwickeln. Im Kindergartenalter überwand ich sie, einen Nachmittag lang. Es war im Schwimmbad; dort war ich mit meiner deutschen Freundin Silke und ihrer Familie. Ich trug meine orangefarbenen Schwimmflügel, die ich sonst nur am Meer anlegte. Silke und ihre große Schwester hatten so ähnliche an, und die beiden führten mir ein mutiges Spiel vor: Sie sprangen einfach so vom Beckenrand in das Wasser – wo sie „kein Fuß“ hatten! Mit „kein Fuß“ meinten wir damals, keinen Boden mehr unter den Füßen. Doch das hielt die beiden nicht ab. Sie sprangen hinein, tauchten so richtig mit dem Kopf unter – ehe die famosen Schwimmflügel sie an die Oberfläche hochzogen. Erst traute ich mich nicht. Doch dann tat ich es irgendwann, klopfenden Herzens; und es funktionierte: Ich schlug in das Wasser ein, es schwappte über mir zusammen, während ich die Luft anhielt und die Augen fest schloss – dann dieses andere Gefühl, der Zug nach oben, das Auftauchen mit nassem Haar in die kühle Luft, und da war ich wieder! Das war ein Nachmittag der Euphorie.
Lag es an meinem Schwimmunterricht, dass ich die Angst vor dem Untertauchen nicht für immer verlor? Den Schwimmunterricht gab mir mein Vater. Er legte seine Hand unter meinen Bauch, während ich, wie er es mir gezeigt hatte, versuchte, flach auf dem Wasser liegend die Arme nach vorne zu stoßen, dann halbkreisförmig nach hinten zu führen und dabei mit den Füßen zu strampeln. (Für den Anfang genüge das Strampeln, erklärte mein Vater; später gebe es für die Beine und Füße eine bessere, aber schwierigere Bewegung). Zunächst trug ich meine orangen Schwimmflügel beim Üben, und es war aufregend und machte Spaß. Dann meinte mein Vater, ich sei soweit und könne die Schwimmflügel ausziehen. Er war ja dabei und seine Hand unter meinem Bauch stützte mich; natürlich ließ ich mir hoch und heilig versprechen, dass er die Hand nicht zurückziehen würde, und dann übten wir so, ohne Schwimmflügel. Aber unsicher fühlte ich mich dabei schon; denn da, wo wir übten, hatte ich kein Fuß.
Doch mein Vater war ja da, mit seiner haltenden Hand.
Bis er sie fortzog.
Noch Jahre später, wenn wir auf dieses Thema zurückkamen, erinnerte mein Vater sich und mich daran, wie ich ununterbrochen schreiend allein, ohne Hand, zum nächsten Beckenrand geschwommen war. Da mir dieses gelungen war und ich fortan schwimmen konnte, hielt mein Vater seine Methode für gut. Ich weiß nicht…
Seltsamerweise schwamm ich danach dennoch gerne. Ich lernte auch das mit den richtigen Fußbewegungen. Diese erste, väterlich beigebrachte Brustschwimmtechnik behielt ich dann mein Leben lang bei. Den Kopf stets über dem Wasser. Denn mit dem Kopf untertauchen, wie man es beim Sportschwimmen müsste, war nichts für mich. Das war weniger eine Frage der Angst als der des Verlangens danach, meine Umgebung zu sehen. Auch heute noch schaue ich gerne um mich, beim Schwimmen. Natürlich insbesondere beim Schwimmen im Meer.
Das Meer. Das war in meiner Kindheit manchmal das warme Mittelmeer, aber ganz regelmäßig war es der Atlantik. Der war kälter, aber das störte uns Kinder nicht. Mein Bruder und ich, und später auch meine Schwester blieben oft so lange im Wasser, dass unsere Lippen vor Kälte blau wurden und unsere Eltern uns gnadenlos befehlen mussten herauszukommen, um uns aufzuwärmen. Am Strand wickelten wir uns in große Strandtücher, die sonnendurchwärmt waren und uns schützten, gab es Wind. Dann waren wir schon wieder drinnen, in den Wellen, mit denen wir spielten, von denen wir uns überspülen oder tragen ließen, in denen wir an glücklichen Tagen Algen fanden, um uns damit zu bewerfen, oder, noch besser, jene braunen Algen mit kichererbsengroßen Hohlräumen darin, die ploppten, wenn man sie zerdrückte.
Vom Meer konnten wir nie genug kriegen. Keiner von uns, in unserer Familie. Doch die Erwachsenen unterschieden sich. Während meine Mutter etwas Angst davor hatte, kein Fuß mehr zu haben, und deshalb dicht am Strand entlangschwamm oder nicht so viel anders als wir in den Wellen spielte, pflegte mein Vater, mindestens zweimal pro Strandbesuch seine „tausend Stöße“ zu schwimmen. Er zählte nämlich mit. Dabei entfernte er sich viel weiter vom Strand, als es meiner Mutter lieb war, die während seines Ausschwimmens stets Ausschau nach seinem Kopf über dem Wasser hielt. Mein Vater mochte auch nicht das Sportschwimmer-Untertauchen; er sah lieber, wohin er schwamm, und zwar durch seine Brille. Anders mein Papy, mein bretonischer Großvater. Waren er und meine Mamie mit uns am Meer, plantschte meine Großmutter ähnlich im Wasser wie meine Mutter, vielleicht noch weniger mutig. Mein Papy aber schwamm wie ein Fisch. Er machte das mit dem Untertauchen und dem Kraulen und alles. Dann war er erst einmal weg. Ob er seine Schwimmzüge zählte? Ich habe ihn niemals danach gefragt.
Ich selbst fühlte mich im Meer auch ziemlich fischähnlich. (Auch wenn mein Kopf über Wasser blieb.) Denn ich fühlte mich sicher, vom Meer getragen. Mein Vater erklärte einmal, dass das am Salzgehalt liege. Das verstand ich, aber letztlich war mir die Theorie egal: Das Gefühl des Getragenwerdens war alles! Man musste es nicht erklären. So verlor ich auch mehr und mehr die Angst davor, ohne Fuß zu schwimmen. Es war ohnehin kaum abzuschätzen, wo die Schwelle zwischen Noch-Fuß und Nicht-mehr-Fuß lag. Je älter ich wurde, desto weiter wagte ich mich hinaus. Zunächst noch in Begleitung meines Vaters. Dann später, als Teenager, liebte ich es, alleine hinauszuschwimmen. Von meinem Vater hatte ich es gelernt, mich an Bojen oder anderen markanten Punkten zu orientieren, um trotz möglicher Strömungen den gewünschten Kurs nicht zu verlieren. Daran hielt ich mich. Ich war gut durchtrainiert und voll von der der Jugend eigenen Gewissheit, unbesiegbar, ja unsterblich zu sein, gleichsam. Ich schwamm also hinaus. Dorthin, wo kein anderer Mensch mehr war, und wo Felsen, wenn es sie gab, längst unter mir unsichtbar waren, in der Tiefe. Hier gab es nur mich, meine gleichmäßigen, kräftigen Schwimmzüge, das Gefühl des Vorangleitens mehr, als dass ich es gesehen hätte – eine Alge im Ozean sieht nicht, in welche Richtung sie wie schnell treibt; es gab mich, meinen Körper, auf den ich vertraute, und das Meer, das mir wohl manchmal, wenn ein Schatten seine Oberfläche verdunkelte, ein wenig unheimlich tief war; doch es trug mich, wie ich wusste, aus Erfahrung und wegen des Salzgehalts. Ich schwamm hinaus, bis ich mich frieren fühlte; das war eigentlich zu spät zum Umkehren, denn der Weg zurück war stets weit; kam ich am Strand an, war ich dermaßen erschöpft und ausgekühlt, dass ich mich bäuchlings auf mein Strandtuch legte und die manchmal tauben Finger im heißen Sand vergrub.
Meine Mutter hasste es, wenn ich es tat. Wenn sie meinen Kopf, den ich stets über Wasser hielt, in der Ferne aus den Augen verlor und dann lange auf das Wiederauftauchen warten musste. Doch niemand hätte mich davon abhalten können, so ohne Fuß zu schwimmen, im glitzernden, kalten, mich tragenden Wasser so ganz wie zuhaus‘.
Meine ist die Geschichte eines Menschen, der zwei Heimaten hat – oder keine. Der in zwei Kulturen aufgewachsen ist – oder zwischen. Der zwei Sprachen hat, oder beim Denken manchmal eine, in der sich die Worte und Ausdrucksweisen und darüber die Denkweisen vermischen, auf eine Art, die nur diejenigen verstehen könnten, denen es ähnlich ginge – also wenige, sehr wenige, letztlich am ehesten meine Eltern und meine Geschwister, die alte Kernfamilie mit ihrer selbst ausgebildeten deutsch-bretonischen Familienkultur.
Vor vielen Jahren begegnete ich einem Menschen, der auch einen deutsch-französischen Hintergrund hatte. Als ich sagte, ich sei halbe Französin, verbesserte er mich: „Du bist keine Hälfte; du bist beides, Französin und Deutsche.“ Halbes, Ganzes oder verdoppelt – mein Leben ist immer wie schwimmen ohne Fuß. Es ist befreiend, keine einseitigen, keine einengenden Wurzeln zu haben, ganz auf sich allein und die eigenen Vermögen gestellt zu sein und zu erleben, dass es geht – dass man über dem Wasser bleibt, das einen trägt. Es ist überaus reizvoll – wenn auch etwas unheimlich, sobald ein Schatten auf einen fällt und die vordem funkelnden Wellen verdunkelt, so dass es einem doch plötzlich aufgeht, wie undurchdringlich und womöglich gefahrvoll die Tiefe unter einem ist. Oder man dreht es um und sagt, es ist etwas gefährlich, so ohne Fuß zu schwimmen, aber dabei überaus frei und reizvoll. Wie man das gerade sieht, hängt genau davon ab, ob soeben ein Schatten auf einen fällt oder ob man eine Sonnenphase erwischt hat.