Alles im Fluss
Django fand diesen frisch-grauen Vorfrühlingsmorgen elektrisierend. Das hatte schwerwiegende Folgen für mich. Mit seinen sieben Monaten hatte Django seine fünfzig Zentimeter künftige Schulterhöhe noch nicht erreicht, und wiegen tat er erst vierzehn Kilo. Aber vierzehn Kilo reine Muskelmasse! So fühlte es sich zumindest an, wenn ich mit dem Kraftpaket am anderen Ende der Leine Gassi ging und mein Arm länger und länger wurde…
Hatte ich schon gesagt, dass meine – nun, deutlich unter hundert Kilo nicht ganz aus reiner Muskelmasse bestehen, derzeit? Und hatte ich gesagt, dass Django ein absolut nasegesteuerter Jagdhund ist? Ich würde es nicht erwähnen, würde es nicht eine gewisse Rolle spielen in der Geschichte, um die es hier geht.
Und damit zurück zu unserem frisch-grauen Vorfrühlingstag, es war im März. Django und ich also unterwegs; die Avignon-Anlage runter, an der alten Stadtmauer entlang, und ich dabei in maximal möglicher Rückenlage, zum Ausgleich des vorzerrenden Hundes. Der erlösende Moment kam erst nach der Durchquerung der Altstadt, am Wetzlarer Stadion: Hier endlich ließ ich meinen Vierbeiner los – und genoss das Schauspiel von Django unchaned: wie er sofort in den Sprint überging; verharrte, die Nase gegen den Wind erhoben; dann weiter, die Böschung hinab…
Schon ein paarmal war ich mit Django in den Lahn-Auen gewesen; da kam mir die Idee, wir könnten uns heute zur Abwechslung links halten und bis zur Dillspitze gehen; an die Stelle, wo die Dill in die Lahn einfließt.
Es war herrlich, hier unten am Dill-Ufer. Ein lebhaftes Lüftchen strich über die Ebene; andere Spaziergänger mit hündischen Vierbeinern gab es zu dieser frühen Stunde nicht – die große Freiheit also, wir hatten den Fluss und die Gegend für uns! Django war auch ganz aus dem Häuschen, schnüffelte hier, schnüffelte da; als zwei Enten kreischend vom Uferrand aufflogen, wäre er am liebsten abgehoben und ihnen nach! Schmunzelnd folgte ich ihm bis zu dem Punkt, an dem wir beide nicht weiterkamen, die vorderste Spitze der Landnase. Ich beugte mich vor und sah, dass das Wasser unter mir zunächst noch recht seicht zu sein schien; denn da die Dillspitze nicht naturbelassen, sondern von Menschenhand befestigt ist, fällt eine steile Rampe zu einer Art Stufe oder Plattform hinab. Die allerdings ist nicht breit – gerade mal breit genug für einen Django: Denn der hatte sich mit der neugierigen Nase zu weit nach unten gewagt und stürzte jetzt, vor meinen Augen, die Rampe herunter! Ich wollte ihn noch fassen – zu spät!
Erschrocken fing Django unter mir an zu jaulen, stellte sich auf die Hinterbeine, versuchte zu springen und sich hochzudrücken, vergeblich: Die Befestigungsrampe der Dillspitze war schlichtweg zu steil für den armen Kerl, der wieder und wieder mit den Pfoten abglitt, um mit Beinen und Bauch im Wasser aufzuklatschen. Verzweifelt, ja flehentlich sah Django zu mir auf, immer panischer wurden seine Befreiungsversuche; ich bekam Angst, er würde im Eifer des Gefechts ganz von seinem Plateau abrutschen; würde er auch schwimmen können – was er noch nie getan hatte –, wohin sollte er sich wenden? Ich musste ihn retten!
Ich setzte mich auf den Hosenboden, ließ mich unsanft die Rampe herunterrutschen - und tauchte bis zu den Schienbeinen in dieses WIRKLICH VERDAMMT KALTE Flusswasser ein! Aber das war es wert: Mein kleiner Django sprang sofort an mir hoch und mir in die Arme, winselnd vor Freude. Gut, meine Jacke war damit auch eingesaut, mit Wasser und klebrigem Schlamm, so wie mein Gesicht von den wilden Hundeküssen. Aber den letzteren würde ich bald ein Ende bereiten, nämlich Django soweit hochheben wir möglich; dann würde es ihm hoffentlich gelingen, sich aufs sichere Festland hochzuziehen? Ich erklärte Django in wenigen eindringlichen Worten den Plan, stemmte ihn hoch – und er schaffte es!
Damit hatte sich die Perspektive verkehrt, und ein aufgeregter Hund winselte und wuffte herunter zum aufschauenden Herrchen. „Alles gut, Kleiner, komme schon“, versprach ich. Leider musste ich feststellen, dass diese saublöde Rampe erstens zu steil und zweitens zu glitschig war. (Überraschung!) Ich begann mit vergeblichem Klettern; dann lehnte ich mich rittlings an die Schräge und versuchte es mit Hochschieben auf dem Hosenboden (nach unten hatte das doch prima geklappt). Doch jedes Mal wieder landete ich mit einem Platsch in der eisigen Dill! Und verfluchte die lebhafte Vorfrühlingbrise, die mich erst recht zum Schlottern brachte; ebenso verfluchte ich es, meinen Hund da oben nicht beruhigen zu können; so wie ich es verfluchte, der einzige Spaziergänger weit und breit gewesen zu sein.
Hilflos ließ ich meinen Blick um mich schweifen – da entdeckte ich plötzlich: Menschen! Es gab doch noch freundliche Zweibeiner in Sichtweite! Zwei, drei davon standen allerdings auf der anderen Seite des Flusses, auf der starken Weide. (Falls jemand es nicht wissen sollte: so heißt der Park zwischen Dill und Braunfelser Straße). „Hallo!“, rief ich und winkte zu meinen hoffentlich starken Helfern herüber. Wobei mir selbst nicht ganz klar war, was ich von ihnen erhoffte – dass die einen spontanen Rettungstrupp organisieren würden? Jetzt hielt immerhin noch ein Radfahrer bei dem Grüppchen. Und zückte sein Handy. Um mich zu filmen.
Erst wollte ich meinem stark interessierten, aber eben doch nicht hilfreichen Publikum den Gefallen nicht tun; aber nach einer Weile des Wartens mit klappernden Zähnen versuchte ich es doch noch einmal mit der Kletter- und Hochschiebe-Nummer. Wobei der Radler mit dem Handy-Gefilme nicht der einzige blieb, und das machte mich fuchsig. Klar; an mein eigenes Handy hatte ich auch schon gedacht; aber ich hätte einfach nicht gewusst, wen ich anrufen sollte. Die Polizei, meinen Freund und Helfer? Nein; dann eher die Feuerwehr? Oder doch lieber rüberschwimmen, zur starken Weide? Aber wäre ich dafür stark genug, mit den schweren, nassen Klamotten? – Und Django, allein gelassen am anderen Ufer? – –
Die Feuerwehr kam ziemlich schnell. Alle waren sehr eifrig. Man schlug mir vor, ich könne per Boot gerettet werden, oder lieber mit dem Helikopter? Zaghaft fragte ich nach einer Leiter. Leicht enttäuscht gingen die Feuerwehrleute darauf ein. Das heißt, natürlich stieg ein Retter zu mir hinunter, um mir bei Bedarf beim Hochsteigen zu helfen; ob das hieß, dass er mich schieben wollte, werde ich nie erfahren, denn ich schaffte es ohne ihn die Sprossen hinauf.
Oben auf der Dillspitze stürzte mir mein munterer Hund in die Arme, und fast ebenso schnell wurde ich in eine Wärmefolie gewickelt. Etwas erstaunt sah ich auf die drei Einsatzfahrzeuge, die angerückt waren. Während ich meine Personalien angab, spielten zwei junge Feuerwehrmänner Stöckchen mit Django. Ich stand noch etwas neben mir und beantwortete eher mechanisch die Fragen, die man mir stellte, während es mir durch den Kopf ging: Oh Mann. Du hast es geschafft. Das war eine echt miese Situation da unten, so hilflos und ohne Ausweg. Aber du hast es geschafft, du bist da rausgekommen! Irgendwie geht es doch immer weiter. Ja, irgendwie geht es weiter, im Leben…
Da ließ mich etwas aufhorchen. „Wie – wie bitte?“, stammelte ich.
„Das ist dann auch die Adresse, an die wir Ihnen die Rechnung schicken?“, wiederholte der Feuerwehrmann geduldig.
Ich schluckte. Nur gut, dass die den Helikopter daheimgelassen hatten. Das freundliche Angebot, Django und mich nachhause zu fahren, schlug ich dankend aus.
Da ich mich doch etwas angegriffen fühlte, war mir der Heimweg über die Avignon-Anlage zu steil und ich ging durch die Fußgängerzone und über den Domplatz. Um mich sah ich die geschlossenen Cafés und Läden; manche davon würden nie wieder öffnen. Und wie das so ist, ob nun passend oder nicht - das menschliche Gehirn stellt Bezüge her und Vergleiche an. So kam es zu folgendem Wortwechsel.
Ein entfernter Bekannter, ein vorsichtiger Typ und ziemlicher Schwätzer, erblickte Django und mich, so matschig und nass, und fragte aus sicherem Abstand und mit aufgerissenen Augen über seiner blauen Maske: „Hallo, alles gut?“
Ich aber hatte keine Lust auf lange Erklärungen, und schon gar nicht auf schlaue Kommentare. So antwortete ich bloß: „Alles im Fluss. – Und das ist gut so.“